Melanie Schober: Das komplette Interview

Melanie Schober
Brave Brother 1.0 – Personal Paradise © by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017 / Melanie Schober

Im August 2017 erscheint mit Brave Brother 1.0 (s. AnimaniA 6/2017) die neueste Episode aus dem dystopischen Personal Paradise-Universum, das Melanie Schober bereits 2008 entwarf. Wir nutzen die Gelegenheit, um für euch mit der Zeichnerin über ihre Erfahrungen, ihre Figuren und Inspirationen zu unterhalten. 

Brave Brother 1.0 – Personal Paradise © by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017 / Melanie Schober

Wenn Du inzwischen auf Deine Anfänge als Manga-ka zurückblickst, würdest Du etwas anders machen? Und wie sieht es bei Deinem ersten Einzelband Personal Paradise von 2008 aus? Würdest Du daran im Nachhinein etwas ändern?

Melanie Schober (MS): Das ist eine Frage die ich mir selber sehr oft gestellt habe und ich glaube, dass ich zumindest bei Personal Paradise nichts ändern würde! Ich wünschte natürlich, ich hätte den ersten Band ein klein wenig besser gezeichnet, aber einerseits sind extrem geschliffene Zeichnungen bei weitem nicht das Wichtigste an einem Manga und andererseits ist es schön zu sehen, wie sich der Stil über die Jahre weiter entwickelt hat. Also nein, mit Personal Paradise bin ich zufrieden, so wie es ist. (lacht)

Anders sieht es mit SKULL PARTY aus. In der Retrospektive würde ich die Handlung etwas flotter starten lassen und einige Teile kürzen, um andere zu verlängern. Außerdem würde ich gern in die Zeit vor Arbeitsbeginn zurückreisen und Carlsen um einen Band mehr bitten. Mit fünf Bänden wäre mehr Platz für tiefere Charakterentwicklung gewesen. Der Platz hat mir sehr gefehlt.

Du bist jetzt schon recht lange im Manga-Geschäft. Kannst Du eigentlich davon leben und wie beurteilst Du persönlich die Entwicklung der deutschen Manga-Landschaft?

MS: Auch das ist etwas, über das ich andauernd nachdenke. Einerseits mit Freude und Stolz im Bauch, andererseits aber auch mit Sorge. Wenn man sich ansieht, was für technisch hochausgereifte Bücher von deutschsprachigen Zeichnern im Moment in Deutschland erscheinen – ob nun bei Verlagen, oder im Independent Bereich –, kann man nur stolz auf uns alle sein! Ich finde, wir haben uns über die letzten zehn Jahre echt gemacht und vor allem an unseren Stories gearbeitet. Am Anfang schienen vorrangig tolle, möglichst saubere  Zeichnungen wichtig zu sein. Aber heute zählt vor allem eine richtig gute Geschichte mit sympathischen Charakteren und spannenden Plot-Twists! Es macht mir unglaublich viel Spaß, die Werke der Kollegen zu lesen und ich denke dabei oft: „Wow! Das ist echt cool! Davon bin ich richtig Fan!“ Nicht nur, weil es von Kollegen kommt, die ich gern unterstützen will, sondern auch, weil es richtig gut ist! Weil es Herzklopfen erzeugt, weil man die Charaktere liebt. Weil man wissen will, wie es weiter geht! Die Szene ist voll von wahnsinnig talentierten Menschen, die stetig hart an sich arbeiten und von Jahr zu Jahr besser werden. Eigentlich könnte man fast schon sagen, dass eine kleine Comic/Manga-Revolution im Gange ist. Comiczeichnen ist nun „ein Ding“ in Deutschland. Die Szene ist meiner Meinung nach gar nicht mehr wirklich klein.

Das alles klingt sehr positiv und enthusiastisch, aber es gibt auch Schattenseiten. Es ist nämlich immer noch wahnsinnig schwer, von dieser Arbeit zu leben. Es gibt verschiedenste Modelle, die es einem ermöglichen, nur vom Zeichnen allein zu leben. Manche Zeichner verkaufen ihre Bücher, Merchandise und Fanart auf Messen und nehmen dadurch genug Geld ein, um sich über Wasser zu halten. Einige wenige, sehr talentierte leben sogar sehr gut davon. Andere nehmen nebenher Illustrationsaufträge von Firmen oder Privatpersonen an, wie ich zum Beispiel, weil ich als Österreicherin einen recht weiten Anfahrtsweg zu den Conventions in Deutschland habe und sich das mit den Verlags-Deadlines beißt. Wieder andere haben es geschafft, treue Supporter über Patreon zu finden.

Aber wenn ich ehrlich bin… ist es für die meisten von uns sehr anstrengend, zu überleben. Wir schaffen es, mit den hundert kleinen Dingen, die wir tun (Workshops, Commissions, Aufträge, Patreon, Honorar für den Verlagsmanga), aber es zehrt an den Kräften und oft bin ich traurig darüber, dass ich mich nicht voll und ganz  nur auf Manga konzentrieren kann. Ich würde mich wirklich gerne auf meine Geschichten fokussieren, längere Abschnitte der Geschichte etwas zügiger zeichnen, aber das ist nicht möglich, weil ich nebenher meine Lebensgrundlage verdienen muss.
Ich weiß, dass es utopisch ist, aber ich träume immer noch von einem Honorar, das es mir ermöglicht, ohne Ablenkung an meinen Stories arbeiten zu können. Illustrationen zu zeichnen macht zwar auch Spaß, aber mein Herz schlägt einfach für die sequenzielle Erzählkunst. Ich wünschte, irgendetwas Großartiges würde passieren – IRGENDWAS – das es mir ermöglicht, nur noch Manga zu zeichnen. (lacht)

Brave Brother 1.0 – Personal Paradise © by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017 / Melanie Schober

Brave Brother spielt zeitlich vor dem ersten Personal Paradise- Warum hast Du Dich dazu entschieden, Mike in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen?

MS: Ganz einfach: Ich liebe Mike! Mike ist eine meiner absoluten Lieblingsfiguren – weil er dynamisch ist und sich immer wieder verändert  In Killer Kid sieht man zum Beispiel, wie er viele Jahre später drauf ist. Und da wirkt er GANZ anders als der Mike, den man in Miss Misery kennen gelernt hat. In Miss Misery ist er cholerisch, intolerant, ständig zugedröhnt, auch ein bisschen größenwahnsinnig … und doch – das wage ich jetzt mal zu behaupten – unterschwellig spürbar kein böser Mensch. In Killer Kid ist er plötzlich viel ruhiger, mit seinem Erzfeind befreundet, offensichtlich wieder klar bei Verstand und voll bissigem Sarkasmus. Ich denke, Mike wirft Fragen auf. Zum Beispiel: Wie kann es sein, dass er in Miss Misery noch ein unmögliches Arschloch war und in Killer Kid auf einmal geläutert daherkommt? Und wie wurde dieser wirre, kaputte Typ überhaupt Leader der Westside? Die Frage wurde mir tatsächlich sehr oft gestellt, weil Mike  tyrannische, unberechenbare Züge besitzt und man sich fragt: Wer zur Hölle hat dem denn die Zügel in die Hand gegeben? Und warum halten die Westsider immer noch so eng zu ihm? Nur aus Angst vor seiner Unberechenbarkeit? Oder ist da noch mehr?
Und da ist halt noch mehr. (lacht) Mike war nicht immer so kaputt – und davon erzählt eben Brave Brother. Wenn man den Manga gelesen hat, weiß man über Mike, dass er mal mehr als okay war, dass er in Schwierigkeiten geraten ist, eine Zeit durchgemacht hat, in der er auf die schiefe Bahn geraten ist (Miss Misery) und am Ende doch zu einem reifen, erwachsenen Mann wird (Killer Kid). Der Teil, der zeigt, wie Mike vom Westside-Tyrannen zum besten Kumpel von Nico wurde, fehlt noch. Und ich hoffe, ich kann diese Lücke noch füllen – aus der Perspektive einer anderen Figur.

Was hat Dich speziell zu Mikes Vorgeschichte inspiriert?

MS: Vieles. Ich bin in einem sehr harmonischen Elternhaus aufgewachsen. Eigentlich kann man sich keine schönere, behütetere Kindheit vorstellen. Und als ich klein war, dachte ich, dass das bei allen Kindern so ist. Als ich dann aber bei diversen Freunden zu Besuch war und dort oft gestritten und geschrien wurde, war ich regelrecht schockiert. Und dieser Schock sitzt irgendwie immer noch tief in mir. Ich bin zugleich abgestoßen und fasziniert von der Schrecklichkeit zerrütteter Familien. Fasziniert natürlich nicht in dem Sinne, dass ich es toll finde! Es beschäftigt mich einfach. Wie die Dinge aus dem Ruder laufen können, wenn einige Parameter im Leben nicht stimmen.

Später habe ich mein heiles Elternhaus verlassen, um nach Innsbruck zu gehen und dort eine höhere Schule für Grafik und Kommunikationsdesign zu besuchen. Und im Wohnheim herrschte einfach nur Anarchie. Meine Kollegen haben sich besoffen, sind mit blauen Lippen zitternd über den Gang getorkelt und haben sich im Aufzug neben den Betreuern übergeben. Manche von denen hätten in dieser sensiblen Zeit der Charakterentwicklung echt mehr Aufmerksamkeit von den Betreuern gebraucht, mehr Halt, mehr Unterstützung. Viele von ihnen sind komplett abgestürzt, haben die Schule geschwänzt und im Grunde ihr gesamtes Leben binnen weniger Monate in den Sand gesetzt. Und auch das hat mich zugleich erschreckt und auch fasziniert. Denn ich war immer brav – zum Glück! (lacht) und ein eher kindlicher Beobachter, der das ganze mehr gruselig und persönlich bedrohlich als anziehend fand. Ich wusste nie so richtig, wie ich mit Freunden umgehen sollte, die unter Drogeneinfluss im Januar mitten in der Nacht im Inn schwimmen gehen wollten. Es hat mich gegruselt, wie sehr sich Menschen verändern und wie verwirrt sie sind, wenn sie unter Drogen stehen. Zum Glück war wenigstens ich nüchtern und konnte ein „fröhliches“ Inn-Gruppenschwimmen verhindern!

Brave Brother 1.0 – Personal Paradise © by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017 / Melanie Schober

Später dann habe ich immer wieder sehr viele Menschen kennengelernt, die Probleme hatten. Mit ihren Eltern, mit Freunden, auch mit Drogen. Einer dieser Menschen stand und steht mir sehr nahe und ich habe über Jahre beobachtet, wie er sich mit Gras kaputt gemacht hat. In einer Kritik zu Miss Misery stand mal, ich hätte keine Ahnung von Gras. Gras mache nicht aggressiv und sei insgesamt keine schlimme Droge. Ich kann nur sagen, dass auch Gras eine unglaublich schlimme Sucht auslösen kann und dass Menschen, die zu viel davon konsumieren, insbesondere dann, wenn sie mal kein Gras zur Verfügung haben, sehr böse werden können.

In Brave Brother verarbeite ich also vor allem meine Erlebnisse mit geliebten Menschen, die die Droge am Ende mehr geliebt haben, als alles andere. Wenn ich eine Figur in Brave Brother wäre, dann wäre ich Marianne, die Mike beim Lügen ertappt und enttäuscht über gebrochene Versprechen ist. Denn genau das habe ich mit süchtigen Menschen erlebt.

Werden wir in den folgenden Bänden auch mehr über die Charaktere deiner anderen PP-Stories erfahren? Und wird es neue Figuren geben?

MS: Erst mal: Ich hoffe, dass es noch weitere Bände geben wird. Das weiß man als Zeichner ja nie wirklich sicher. Drückt mir die Daumen! In Brave Brother 2 wird jedenfalls eine neue Figur auftauchen – Nostra, die Leaderin der Eastside. Und ich liebe Nostra total, weil sie meiner Meinung nach der klügste, ironischste, mutigste und vielleicht auch rechtschaffenste Personal Paradise-Charakter ist, den es je gab. Es gibt ja jede Menge kaputte Persönlichkeiten und das ist natürlich auch ziemlich unterhaltsam, aber zwischendurch freut man sich über Figuren, die die Handlung wie Kitt zusammen halten. Und Nostra ist so eine Figur. Sie behält immer den Überblick, plant weise und hasst nichts mehr als Ungerechtigkeiten. Darüber hinaus ist sie auch noch cool und sexy. (lacht) Klingt fast schon nach „Mary Sue“, oder? Aber dafür ist sie einen Tick zu derb drauf, glaub ich. Sogar Andy hat regelrecht Angst vor ihr! (lacht)

Ich hoffe jedenfalls, die Leser mögen sie genauso gern, wie ich!

Deine Werke enthalten immer auch gesellschaftskritische Töne. Was möchtest Du Deinen Lesern diesmal mitgeben?

MS: Die Botschaft mag zwar etwas kitschig klingen, aber ich finde, dass sie wichtig ist: Bleibt euch stets selbst treu. Lasst euch von niemandem zu irgendwas überreden, was ihr eigentlich nicht wollt. Tut nichts, um „cool“ zu wirken. Das, was heute cool ist, ist morgen vielleicht nicht nur peinlich, sondern außerdem  unter Umständen zerstörerisch. Und seid nicht zu leichtgläubig. Nicht jeder Mensch ist euer Freund. Echte Freunde sind nur diejenigen, die auch bei euch bleiben, wenns euch richtig dreckig geht, oder wenn ihr mal Entscheidungen trefft, die EUCH gut tun. Echte Freunde lieben euch und wollen nicht, dass ihr euch für sie kaputt macht. Falsche lieben hauptsächlich sich selbst!

Die Comedy tritt in Brave Brother 1.0 gefühlt doch etwas in den Hintergrund. Ist Melanie Schober erwachsen geworden?

MS: Oh Gott! NEIN! (lacht) Ich lade dazu ein, meine Alltags-Comicstrips auf Twitter oder Facebook zu lesen. Da lass ich immer noch ausgiebig meinen tiefen, doppeldeutigen, schlechte Worstpiele nutzenden Fäkalhumor raus. (lacht)

Die Gag-Rate hab ich in Brave Brother bewusst reduziert, da in Reviews oft zu lesen war, dass der Humor die Ernsthaftigkeit gewisser Szenen kaputtmachen würde. Und ich finde, dass diese Kritiker recht haben! Es war auch noch einfacher, in Personal Paradise 1 Witze zu machen, als in Brave Brother, weil die Themen in letzterem viel ernster und schwerwiegender sind. Und ich will die Drogen-Thematik auf keinen Fall als etwas darstellen, das man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Immerhin trägt man als Zeichner auch Verantwortung für sein Publikum. Und deswegen hab ich meinen Einsatz von Chibis und Gags etwas zurück geschraubt. (lacht)

Bei Killer Kid hattest Du erstmals Arbeit an Assistenten ausgelagert. Gibt es auch bei Brave Brother Neuerungen in Deiner Arbeitsweise oder neue Materialien, die Du eingesetzt hast?

Brave Brother 1.0 – Personal Paradise © by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017 / Melanie Schober

MS: Ja, ich hab mittlerweile wieder keine Assistenten mehr, weil es sehr schwer ist, auf längere Sicht welche zu finden, die wirklich mit Spaß und Eifer bei der Sache sind und exakt arbeiten. Mir ist es einfach total wichtig, dass derjenige, der zum Beispiel Häuser tuscht und Rasterfolien einsetzt, das auch gern macht.

Ich überlege aber aktuell, wieder eine Assistentin einzustellen, weil ich nebenher noch zusammen mit Martina Peters für die Rollstuhl-WM in Hamburg an einem sehr umfangreichen Projekt arbeite und wir beide aktuell nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht vor lauter Arbeit. Da wäre etwas Hilfe sicherlich nicht schlecht!

Ansonsten arbeite ich immer noch wie zu Killer Kid-Zeiten. Einzige Neuerung: Ich besitze jetzt ein Cintiq (ein Tablet mit Bildschirm). Dadurch bin ich beim Rastern deutlich schneller geworden und auch beim Colorieren via PC. (lacht) Ich möchte es auch keinen Fall mehr missen! Coolstes Arbeitsgerät aller Zeiten!

In Deinen Mangas geht es oft sehr blutig zu. In welchem Rahmen ist Gewalt für Dich zu Unterhaltungszwecken und im Vergleich dazu im realen Leben vertretbar?

MS: Woah, knifflige Frage. Sehr knifflig. Also, wenn wir jetzt nur von Unterhaltung sprechen, so ist für mich die Altersgrenze von größter Wichtigkeit. Mit 10 oder 11 sollten wir gewissen, sehr deutlichen, nicht symbolischen Gewaltszenen nicht ausgesetzt sein. Ich finde es etwa in Ordnung, kleinen Kindern das Märchen von Hänsel und Gretel vorzulesen. Die Hexe wird darin zwar verbrannt, aber die Hexe ist in dem Fall auch nur ein Stereotyp. Ein Symbol für das Böse! Anders empfinde ich, wenn kleine Kinder schon Filme sehen, in denen reale Verbrechen, Mord oder sexuelle Gewalt gezeigt werden. Das geht meiner Meinung nach gar nicht. Natürlich ist nicht jedes Kind gleich und manche können vielleicht schon mit neun Jahren Saw sehen, ohne Schaden zu nehmen, aber ich würde es auf keinen Fall drauf ankommen lassen. Ich hab mit acht Jahren Felidae gesehen und sehr unter den brutalen Bildern gelitten, fand sie unheimlich und hatte Albträume davon.

Je älter wir werden, desto gefestigter sind unser Charakter und unsere Moralvorstellungen und desto mehr „Gewalt zur reinen Unterhaltung“ ist vertretbar. Ich stamme eher aus dem Lager, das die Freiheit der Gedanken und der Kunst befürwortet. Menschen haben … gelinde gesagt … skurrile Gedanken und Fantasien. Aber wenn man geistig gesund ist, kann man einen klaren Strich zwischen Realität und Fantasie ziehen. Die Fantasie ist genauso abstrakt wie die Hexe, die von Hänsel und Gretel verbrannt wird. Sie hat keinerlei Bezug zur Realität. Ich bin absolut dagegen, Gewaltdarstellungen für Erwachsene zu zensieren. Die Eskalation kann nämlich auch eine Form künstlerischen Ausdrucks sein. Das Spiel mit Ekel und Grauen, mit Grusel und Angst! Das ist etwas, das man als Erwachsener durchaus in gewisser Form genießen kann. Horrorfilme zum Beispiel spielen mit unseren Urängsten. Und auf viele Menschen übt das eine große Faszination aus. Sich in das sichere, kuschelige Kino zu setzen, mit Popcorn in der Hand und zu denken: Gott sei Dank wird mir gerade nicht mit einer Spritze in den Augapfel gestochen! (lacht)

Brave Brother 1.0 – Personal Paradise © by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017 / Melanie Schober

Aber das kann man eben – wie gesagt – erst als Erwachsener. Dieses Abgrenzen von Realität und Fantasie. Und das Nachdenken über Symboliken.

Ich kann nur sagen, dass ich trotz meiner teilweise blutigen Geschichten ein unfassbar friedliebender Mensch bin. Gestern habe ich sogar eine Wespe gerettet, die in mein Apfelmus gefallen war und darin zu ertrinken drohte. Ich weiß, Wespen sind die Arschlöcher der Insektenwelt, aber wenn ich mir vorstelle, wie das Tierchen voller Angst und Schmerz in dem zähen Brei herumzappelt, kann ich nicht einfach nur zusehen.

Welche Gewalt im realen Leben vertretbar ist, ist schwer zu beantworten. Früher hätte ich gesagt: Gewalt ist grundsätzlich etwas Böses. Man muss um jeden Preis friedlich bleiben.

Aber das ist zu kurz gedacht. Man stelle sich folgende Situation vor: Ein Schläger bedroht einen harmlosen Passanten in der U-Bahn. Und man selbst beherrscht eine Kampfsportart und ist gut trainiert! Wäre es in diesem Fall nicht moralisch verwerflicher, nichts zu tun, anstatt sich vor das Opfer zu stellen und dem Angreifer aufs Maul zu hauen?

Vor Kurzem rannte ein Messerstecher durch Hamburg, der wahllos Unbeteiligte angriff. Zum Glück hefteten sich ihm drei Verfolger an die Fersen, die mit Stühlen und anderen Gegenständen nach ihm geworfen haben, um ihn aufzuhalten!
Man kann also sagen, dass Gewalt zur Verteidigung Unschuldiger, oder auch zur Verteidigung von Werten wie Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Frieden in Ordnung ist. Es klingt zwar etwas kurios, wenn man sagt: Zur Erhaltung des Friedens wende ich Gewalt an, aber realistisch betrachtet geht es oftmals nicht anders. Es gibt auf der Welt Kräfte, denen man sich mit aller Kraft entgegenstellen muss, sonst sind wir verloren. Dazu gehören z.B. Rassismus, Rechtsextremismus, aber auch religiöser Fanatismus. Ich glaube einfach nicht, dass diese negativen Kräfte durch einen Sitzstreik beeindruckt werden können.

Jetzt, da Dein Gesamtwerk neu aufgelegt wird, dürfen die Fans mit weiteren neuen Geschichten aus dem PP-Universum rechnen oder wirst Du Deine Arbeit daran mit Brave Brother abschließen?

MS: In meinem Kopf befindet sich Stoff für sicher sechs bis zehn weitere PP-Bände. Ich glaube zwar nicht, dass ich all das wirklich zeichnen dürfen werde, aber ich hoffe, dass ich nach Brave Brother zumindest noch einmal einen Doppelband machen kann – oder noch besser einen Dreiteiler. (lacht) Das wäre cool!
PP erzählt nämlich insgesamt einen großen Plot, der sich aus vielen kleinen Plots zusammen setzt. Und die Geschichte ist weit davon entfernt, vollständig erzählt zu sein!

Möchtest Du Deinen Fans zum Abschluss des Interviews oder besser zum Neustart deiner Geschichten noch etwas sagen?

MS: Ja! Ich finde, dass ich die besten, treuesten, intelligentesten, kreativsten und mitfühlendsten Leser der Welt habe. Und das sage ich jetzt nicht, weil ich mich bei irgendjemandem einschmeicheln möchte. Oft war ich monatelang allein mit meiner Arbeit, voller Zweifel und Selbsthass und plötzlich gab es einen Personal Paradise-Film (!), oder geniale Cosplays, Fanarts, Fanfictions …! Und das alles hat mich so wahnsinnig motiviert, aufgemuntert … angespornt und auch inspiriert. Mittlerweile lebt Personal Paradise auch durch die Interaktion mit den Lesern und Fans, die immer neuen Input, Ideen und Wünsche einbringen. Und ich teile „mein“ Universum total gern, sodass es irgendwie … unser Universum wird. Dieses Gefühl der Gemeinschaft (besonders auf Twitter!), haut mich total um. Ich bin einfach megadankbar für all die Unterstützung, die mir zuteil wird! Sowohl moralisch, als auch finanziell über Patreon. Ich könnte mir keine freundlichere, motivierendere Community vorstellen. Das ist von unfassbarem Wert! Und ohne all diese Leute würde mir die Energie zum Zeichnen echt ausgehen. In diesem Sinne: Danke, dass ihr immer für mich da seid!

Das Release

Personal Paradise: Brave Brother 1.0 erscheint seit August 2017 bei Carlsen Manga. Unsere Besprechung lest ihr in der aktuellen AnimaniA 6/2017.

Brave Brother 1.0 – Personal Paradise © by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017 / Melanie Schober